16. Dezember 2024
Schätze hinter Glas und in Paraffin
Analysen von Gewebeproben in der Pathologie geben nicht selten den entscheidenden Tipp für die Therapie.
Konzentriert blickt Dr. med. Marlis Günther durchs Mikroskop. „Ich geh noch mal zwei Stufen höher. Da bekommen wir ein besseres Bild“, sagt sie. Bei 400-facher Vergrößerung sind sie ganz deutlich zu erkennen: viele kleine dunkle Punkte. „Das sind Zellkerne“, erklärt die Leitende Oberärztin am Institut für Pathologie des Universitätsklinikums Brandenburg an der Havel. Und es sind deutlich mehr Zellkerne im Gewebe, als es eigentlich sein sollten. Ein Zeichen für Krebs. „Die Zellen wissen nicht mehr, dass sie aufhören müssen zu wachsen“, so Dr. Marlis Günther. Welche Aufgaben die Zellen früher einmal hatten – Horn zu bilden oder auch Schleim: Sie haben es vergessen. Sie kennen nur noch eine Funktion: zu wachsen. Zu wuchern.
Als Leitende Oberärztin der Pathologie bekommt Dr. Marlis Günther viele Gewebeschnitte von Patienten oder auch Ausstriche von Körperflüssigkeiten zur Begutachtung. Und ja, „in der Medizin sind wir häufig in der Situation, dass sich schlimme Befunde ergeben“. Aber die Expertin weiß, dass auch in solchen Fällen „noch viel möglich ist“. Dafür kann eine weitere Analyse des Teams in der Pathologie schon einen Beitrag leisten: Mit einer immunhistochemischen Untersuchung können zum Beispiel Eiweiße auf der Oberfläche von Tumorzellen identifiziert werden, die als Dockingstation für Arzneimittel infrage kommen. Letztere verbinden sich mit diesen Eiweißen – auch Rezeptoren genannt – und können beispielsweise an die Zelle die so wichtige Information weitergeben: Hör auf zu wachsen! Wie die Leitende Oberärztin erklärt, ist das Team der Pathologie in der Lage, fast 170 verschiedene Antikörper für die Tumordiagnostik einzusetzen und damit Ansätze für Therapien zu liefern.
Die Pathologie bekommt ganz winzige Mengen an Gewebe und manchmal auch Proben von mehreren Kilogramm. Egal, ob es wenig oder sehr viel Material ist – die Experten wissen, an welchen Stellen sie einen Gewebeschnitt machen müssen, um ganz genau nachzuschauen. Ein bis drei Tage dauert es von der Anlieferung der Gewebeprobe bis zum Analyseergebnis. Ausnahme sind die sogenannten Schnellschnitte. Da möchten Operateure noch während eines Eingriffs zum Beispiel wissen, ob der Rand des entnommenen Gewebes tumorfrei ist. Oder es steht die Frage, ob das verdächtige Gewebe überhaupt ein Tumor ist. Solche Untersuchungen müssen in 20 Minuten befundet sein. In diesen Momenten „wird um jeden Zentimeter Gewebe gekämpft, der erhalten werden kann“, sagt Dr. Marlies Günther.
Pro Jahr hat die Pathologie des Uniklinikums rund 25.000 Fälle, in denen Material von Patienten untersucht werden muss. Dabei werden statistisch gesehen pro Fall rund sieben Untersuchungen durchgeführt. Darunter Schnittstufen, Spezialfärbungen, immunhistochemische Untersuchungen oder sogar molekulargenetische Analysen. Das macht rund 175.000 Präparate auf gläsernen Objektträgern. In jedem Jahr. Der Gesetzgeber verlangt, dass diese Präparate mindestens zehn Jahre aufbewahrt werden müssen. Das Präparate-Archiv des Universitätsklinikums ist in einem großen Keller auf dem Gesundheitscampus untergebracht. Mit mannshohen Regalen. Mit Regalen, die für Schwerlasten ausgelegt sind. „Eine Kiste voll mit Glasträgern – die hat ein ganz schönes Gewicht“, sagt Dr. Marlis Günther. Für sie ist der Weg ins Archiv ein „Besuch in der Schatzkammer“, wie sie sagt.
Im Keller finden sich nicht nur die archivierten Schnitte. Hier lagern auch kleine Paraffinblöcke, in denen Gewebeproben konserviert sind. Das ist das Material, aus dem die Gewebeschnitte gewonnen wurden, von dem aber noch einige Gramm übrig sind. Diese Proben sind mitunter sogar schon deutlich älter als die geforderten zehn Jahre. All dieses Material ist ein Schatz – für die Mediziner, vor allem aber auch für die Patienten.
Haben sie zum Beispiel Jahre später eine ähnliche Erkrankung und die behandelnden Ärzte wollen Vergleiche ziehen und Therapieansätze diskutieren, können aus den Paraffinblöcken „frische“ Gewebeschnitte gewonnen werden. Das Material ist so gut erhalten, dass selbst die Analyse von Proteinen oder Molekulargenetik noch möglich ist.
Für die Versorgungsforschung hat dieses Archiv ebenfalls einen enormen Wert. Derzeit laufen mehrere Projekte, bei denen Tumorgewebe aus verschiedenen Organen, beispielsweise aus der Brust, der Harnblase, Gebärmutter oder dem Eierstock, weiteren Untersuchungen unterzogen wird. Im Abgleich mit Therapie- und Überlebensdaten aus dem Klinischen Krebsregister können sich so Erkenntnisse zu neuen Behandlungsansätzen abzeichnen, wie Dr. Marlies Günther betont.